Für die 24jährige Studentin, die mir gegenüber sitzt, bricht eine Welt zusammen. Ich musste ihr gerade sagen, dass sie an einer Multiplen Sklerose erkrankt ist. Gerne würde ich von "schonend beibringen" sprechen, aber schonend geht nicht wirklich, allein der Begriff "Multiple Sklerose" löst regelmäßig einen Schock aus. Sie ist doch jung, war immer gesund und hatte sich "nur" wegen eines aufgetretenen Taubheitsgefühls an beiden Beinen unterhalb des Knies vor 3 Wochen bei mir vorgestellt. Die Gefühlsstörung hat sich auch inzwischen schon ganz von selbst wieder gebessert.
Die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen lassen jedoch keinen Zweifel an der Diagnose zu.
Die junge Frau ist der Verzweiflung nahe. Sie weiß wenig über die Erkrankung, kennt jedoch eine seit Jahren an MS leidende Nachbarin, die im Rollstuhl sitzt. Wird sie den von ihr angestrebten Beruf als Rechtsanwältin ausüben können ? Wird sie eine Familie gründen bzw. ihrem künftigen Ehemann eine vielleicht bald "behinderte" Frau zumuten können, Kinder bekommen und versorgen können ?
Aufklärungsgespräche, die erst einmal mit vielen falschen Vorstellungen von Patienten aufräumen müssen, führen wir Neurologen häufig. Viele dieser Vorstellungen beruhen auf dem Phänomen der "selektiven Wahrnehmung", dessen Opfer jeder von uns leicht werden kann.
Wir nehmen vor allem das wahr, was "anders" oder irgendwie auffällig ist und ganz besonders das, was uns Angst macht. Im Alltag sehen wir einen MS-Patienten im Rollstuhl, bemerken aber nicht die vielleicht drei anderen an MS erkrankten Menschen in unserem weiteren Umfeld, die alle keine sichtbare Behinderung haben.
Im Internet lesen wir nur Beiträge von Leuten, denen es schlecht geht oder die von schlimmen Erfahrungen berichten möchten, viel seltener von all den Leuten, denen es mit der Behandlung einer Erkrankung gut geht. Was sollten diese Menschen auch schreiben, was die Aufmerksamkeit der Leser erregen würde ?
Gerade von der MS haben viele Menschen daher ein völlig falsches Bild. Weitaus die meisten Patienten mit einer MS sind heute gut behandelbar, so dass keine "Schübe" der Erkrankung mehr auftreten, die früher - auch damals nur bei einem kleineren Teil der Patienten - schließlich zu einer Behinderung führen konnten. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Medikamente wächst ständig (allein in den nächsten 5 Jahren werden 10 neue Medikamente gegen MS erwartet), die individuellen Behandlungsmöglichkeiten werden immer vielfältiger, die Wirksamkeit besser, allerdings nimmt auch die Zahl möglicher Nebenwirkungen zu, so dass die Behandlung auch komplizierter wird.
Die junge Patientin erfährt daher von mir zunächst, dass die Diagnose MS keinerlei Änderung ihrer Lebensperspektive erfordert. Weder die Berufswahl noch die Familienplanung sind durch die Erkrankung beeinträchtigt. Allerdings sollte frühzeitig die Behandlung mit einem das Immunsystem beeinflussenden Medikament erfolgen.
Ursache der MS ist eine immer wieder auftretende Fehlregulation unseres immens komplizierten Abwehrsystems. Hierdurch kann es zeitweise dazu kommen, dass z.B. gegen einen Virus gebildete Abwehrstoffe sich auch gegen körpereigenes Gewebe richten. Normalerweise werden solche "Autoimmun"-Prozesse sofort erkannt und die betreffenden Abwehrstoffe umgehend ausgeschaltet. Durch den Defekt bei der MS geschieht dies jedoch nicht oder nur verzögert, so dass die Isolierschichten von Nervenbahnen in einer bestimmten Region des Zentralnervensystems beschädigt werden. Als Folge kommt es zu Leitungsstörungen dieser Nervenverbindungen, es treten Ausfallserscheinungen z.B. Sehstörungen, eine Schwäche oder eine Gefühlsminderung auf. Diese Symptome bilden sich zu Anfang der Erkrankung meistens wieder vollständig zurück, da die Isolierschicht wieder aufgebaut wird. Erst nach wiederholtem Betroffensein einer bestimmten Region können dann dauerhafte Störungen verbleiben.
Die Entzündungsprozesse, die zu der Zerstörung der Nerven-Isolierschicht führen, lassen sich mit den heutigen Medikamenten abschwächen bzw. "modulieren". Es stehen inzwischen unterschiedlich stark wirksame Substanzen zur Verfügung, die je nach Erfordernis nacheinander eingesetzt werden ("Eskalation" der Therapie). An erster Stelle dieser "Schubprophylaxe" stehen die inzwischen über viele Jahre erprobten Interferone oder das Glatirameracetat (Copaxone) zur Verfügung.
Die eigentliche Ursache der MS ist trotz intensiver Forschung nach wie vor unbekannt. Es muss sich jedoch um einen nicht überall vorhandenen Umweltfaktor handeln, was mit einer Untersuchung an Eskimos gezeigt werden konnte. Solange ein Eskimo in seiner angestammten Heimat verbleibt, wird er nicht an einer MS erkranken. Zieht er aber in jungen Jahren um z.B. in die USA, ist sein Risiko zu erkranken genauso hoch, wie das eines gleichaltrigen US-Amerikaners.
Die aktuellen Theorien zur Entstehung der MS gehen davon aus, dass ein möglicherweise ganz alltäglicher Virusinfekt bei den betroffenen Patienten im frühen Jugendalter zu einer bleibenden Veränderung des Immunsystems führt.
Das eigentliche Problem bei der MS ist jedoch nicht die Diagnose selbst, sondern die gar nicht oder erst zu spät gestellte Diagnose. Die stark unterschiedlichen Häufigkeitszahlen lassen vermuten, dass in Regionen mit geringer Facharztdichte die zunächst auftretenden, eventuell wenig dramatischen und sich von selbst wieder bessernden Symptome häufig fehlgedeutet werden.
Grundsätzlich sollte daher jede - auch und gerade bei einem jüngeren Menschen auftretende - über mehr als einen Tag anhaltende, deutliche Sehminderung auf einem Auge, Gefühlsstörung in einer größeren Körperregion, deutliche Muskelschwäche von Armen und/oder Beinen oder Gleichgewichtsstörung von einem Neurologen oder Nervenarzt untersucht werden. In vielen Fällen wird es sich hierbei auch um andere, zum Teil harmlose Störungen handeln. Bei tatsächlichem Vorliegen einer MS lässt sich jedoch der Verlauf der Erkrankung durch eine frühzeitige Behandlung entscheidend zum Positiven beeinflussen.
Bine
Jeden trifft die Diagnose MS wie ein Hammer und ich habe fast 2 Jahre gebraucht, um es zu akzeptieren ! Ich weiss "es" seit 2011, habe es aber vermutlich schon 15 Jahre länger ! Es wurde nur nicht erkannt ! Wenn man die richtige Behandlungsmethode gefunden hat, und es einem besser geht ( Gefühlsstörungen und Nervenschmerzen), denkt man wieder positiver, doch der Rollstuhl ist immer noch im Hirn ! Bei mir geht es auf und ab, doch ansehen tut man mir nichts ! Ich sage mir immer: "es gibt Schlimmeres" und Unkraut vergeht nicht 🙂 , doch auch ich habe Tage, an denen es mir schlecht geht und ich nur am Heulen bin ! Dann überlege ich wieder und habe Angst, wie es wohl weiter geht ! Doch dies kann man nicht vorher sagen und so reisse ich mich wieder zusammen und versuche, positiv zu denken , ist nicht immer so leicht, ich weiss ! Wenn mir wieder was aus der Hand fällt, oder ich etwas nicht greifen kann, dann packt mich manchmal die Wut , manchmal aber auch ein Weinkrampf !
Es ist , wie es ist und MS hat wirkllich 1000 Gesichter ! Man darf sich nicht hängen lassen und immer auf einen milden Verlauf hoffen, auch wenn das leichter gesagt als getan ist !!!
Alles Gute an alle Gleichgesinnten und LG !