Dr. Richard Ippisch (aktualisiert am 17.5.2020)
Die Corona-Krise hat unser aller Leben tiefgreifend verändert. Wir sehen es in der Praxis: viele Menschen sind durch die Vielzahl der zum Teil widersprüchlichen Informationen und die Zahlenflut in den Medien verunsichert und stellen Fragen.
Ich möchte daher versuchen, auch hier verständliche Antworten zu geben, wie sich die Situation aus meiner persönlichen Sicht nach Wertung der mir zur Verfügung stehenden Informationen darstellt.
Ich bin seit fast 40 Jahren als Mediziner tätig. Ich kann mich in dieser Zeit an keine einzige Situation erinnern, in der es in den westlichen Ländern dazu gekommen wäre, dass Krankenhäuser in vielen Regionen unterschiedlicher Länder nicht mehr in der Lage waren, die Anzahl der an einer Krankheit schwer Erkrankten ausreichend zu versorgen. Dass die Patienten deshalb im oder vor dem Krankenhaus sterben mussten. Dass man nicht mehr hinterher kam, die dadurch in kurzer Zeit anfallenden Toten zu lagern und zu beerdigen. Dass an einer Erkrankung innerhalb von wenigen Monaten weltweit Hunderte von Ärzten und Schwestern gestorben sind, weil sie sich bei der Arbeit infiziert haben.
Es braucht deshalb überhaupt keine Zahlen um zu erkennen: Corona ist eine hoch ansteckende Erkrankung, an der die schwer Betroffenen sterben. Corona hat sich in beispielloser Schnelligkeit über die gesamte Welt ausgebreitet. Die gestorbenen Ärzte und Schwestern waren nicht älter und kränker als die übrige Bevölkerung. Sie waren dem Virus nur - oft unzureichend geschützt - ausgesetzt.
Die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus waren daher unumgänglich. Die gute Nachricht dabei ist: Sie haben gewirkt, der zunächst befürchtete Massenanfall von schwer Erkrankten blieb in Deutschland aus.
Das Problem dabei ist: wenn die Maßnahmen rechtzeitig erfolgen und nur (relativ) wenige Menschen sterben, glauben manche, die Maßnahmen seien überzogen gewesen. Die Nicht-Gestorbenen und ihre Angehörigen wissen ja nichts von ihrem Glück. Auch in Deutschland hätten wir nicht "nur" alte Menschen, sondern auch viele Schwestern, Pfleger und Ärzte/innen verloren. Ich persönlich möchte mich daher bei all denen bedanken, die dafür zum Teil große wirtschaftliche Opfer bringen müssen.
Die einzige Zahl, die in diesem Zusammenhang weiterhin wichtig bleibt, ist die sogenannte Reproduktionszahl R. Liegt sie unter 1, geht die Erkrankung zurück und unser Medizinsystem wird in der Lage sein, den Patienten, denen man helfen kann (das sind leider nicht alle) auch zu helfen. Liegt sie über 1 werden die infizierten Menschen und damit auch die schwer betroffenen Patienten schneller und schneller immer mehr, so dass früher oder später doch die Überlastung unserer Krankenhäuser droht.
So weit so klar und medizinisch eindeutig. Weniger eindeutig ist unser Wissen darüber, was zur Eindämmung hilfreich ist und was nicht. Radikale soziale Kontakteinschränkung hilft, das haben die letzten Wochen gezeigt, die Zahl R ist unter 1 gesunken.
Der totale Lock-down kann nicht auf Dauer eingehalten werden, auch das ist klar. Wenn wieder mehr Leute aufeinander treffen, werden wieder mehr Leute angesteckt, die Zahl R wird steigen, wenn wir sonst nichts tun.
Die einzigen Möglichkeiten, die wir noch haben, um das allgemeine Infektionsrisiko zu vermindern sind: 1. Abstand halten, 2. Hände waschen, 3. Masken tragen. Zur Zeit kennt niemand weitere Möglichkeiten, die sonst helfen könnten.
Auch einfache Masken halten die beim Sprechen oder starken Ausatmen austretenden, großen Tropfen zurück, die bei Infizierten sehr viele Viren enthalten. Am Anfang haben viele Infizierte wenig oder keine Symptome und können daher tagelang andere unbemerkt anstecken. Das Tragen einer Maske schützt also vor allem die anderen, das haben viele noch nicht verstanden. Es geht bei allen Maßnahmen auch nicht um einen 100 prozentigen Schutz, sondern nur darum, die Anzahl der Übertragungen insgesamt zu vermindern.
Wir wissen nicht, ob die genannten Maßnahmen ausreichen werden, die Zahl R unter 1 zu halten. Wir haben aber derzeit keine Alternativen, außer der erneuten Ausweitung der Kontaktverbote. Also müssen wir es versuchen. Masken und Abstand können jedenfalls nur helfen, wenn sich möglichst viele konsequent daran halten.
Große Ansammlungen von Menschen, die laut herumschreien, den Abstand nicht einhalten und keine Maske tragen sind dagegen am ehesten geeignet, die Wiederausbreitung des Virus zu fördern. Wer sich selbst ansteckt gefährdet auch das Leben anderer. Hier endet die von unseren Grundrechten abgedeckte, persönliche Freiheit.
Aus meiner Sicht ist das alles, was man wissen muss, um sich seine eigene Meinung zu bilden.
(Leider wird auch die oben genannte Zahl R nur mit Computermodellen anhand von Schätzungen ermittelt und ist damit nicht zu 100% zuverlässig. Wichtig ist noch die Zahl der täglichen Neuinfektionen, denn ist diese hoch, kann auch bei einem R=1 unser Gesundheitssystem überlastet werden. Alle sonstigen derzeit verfügbaren, statistischen Zahlen sind allerdings noch unvollständiger und verschiedensten Einflüssen unterworfen, so dass sich daraus aus meiner Sicht keine vernünftige Argumentation in irgendeine Richtung ableiten lässt. Wir alle müssen zur Zeit leider mit diesen Unsicherheiten leben.)